Vergiftet und allein gelassen

Hintergrundinfos

„Die Opfer von Giftstoffen in den Mühlen von Wissenschaft und Justiz“
Das ist der Titel eines Buches von Antje Bultmann(1) aus dem Jahre 1996.

Hat sich inzwischen an dieser Problematik etwas geändert?

Wenn bei einem Erkrankten der Verdacht einer Berufskrankheit durch den Arzt zum ersten Mal geäußert und der entsprechenden Berufsgenossenschaft gemeldet wird, kann man erfahrungsgemäß von folgendem ausgehen:

1.
Der Erkrankte, der bisher die Gepflogenheiten der Berufsgenossenschaften nicht kennt, vertraut sowohl seinem Arzt als auch dem Unfallversicherungsträger = Berufsgenossenschaft (UVT = BG). Er glaubt, er sei durch seinen Arbeitgeber gegen Berufskrankheiten ausreichend versichert und im Falle einer beruflich bedingten Erkrankung zahle die Berufsgenossenschaft für ihn eine Rente.

2.
Ebenso vertraut er der Wahrhaftigkeit der gesetzlich vorgeschriebenen Amtsermittlung durch den Technischen Aufsichtsdienst der BG, der seinen Arbeitsplatz aufzusuchen hat und beurteilen muss.

3.
Volles Vertrauen setzt er in den von der BG beauftragten Gutachter.

Diese „Blauäugigkeit“ büßt der Erkrankte in der Regel bei der standardmäßigen Bearbeitung seiner beruflich erworbenen Erkrankung ein. Allerspätestens beim Lesen des durch die BG erstellten Gutachtens erkennt er, wie mangelhaft, nachlässig und verfälschend der Technische Aufsichtsdienstbeamte der Berufsgenossenschaft im TAD-Bericht den Arbeitsplatz beschrieben hat, der ihn so krank gemacht hat.

Der Betroffene aber kennt seinen Arbeitsplatz genau. Schließlich weiß er, dass er häufig Expositionen ausgesetzt war. Er weiß, dass keine schützende Arbeitskleidung zur Verfügung stand – dass verschiedene Arbeiten ohne Maske ausgeführt werden mussten – dass der Unternehmer oder der Vorarbeiter die Ungefährlichkeit der zu leistenden Arbeit betont haben – dass die bei der Arbeit auftretenden Beschwerden wie z. B. Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen, über die er sich beschwert hat, vom Vorgesetzten kleingeredet und auf andere Ursachen geschoben wurden. Er kennt Arbeitskollegen, die ebenfalls durch Gifte am Arbeitsplatz schwer erkrankten.
Er erinnert sich, dass kurz vor Eintreffen des TAD sein Arbeitsplatz „auf Vordermann“ gebracht wurde. Es wurde auf- um- und weggeräumt, gesäubert, belüftet und gestrichen, es wurden sogar Schutzkleidung und Masken besorgt, so dass der kontrollierende TAD den bestmöglichen Eindruck erhalten musste.
Dem Erkrankten drängt sich die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit seiner Arbeitswelt und der angeblichen Ungefährlichkeit seines Arbeitsplatzes auf, der laut Aussage des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) keine Mängel hat.

Der Erkrankte bemerkt, dass sich die Äußerungen des Gutachters zu seiner Erkrankung ausschließlich an dem von der BG vorgegebenen TAD-Bericht orientieren. Seine eigenen Schilderungen des Arbeitsplatzes hat sich der Gutachter zwar angehört, aber nicht im Gutachten erwähnt. Denn nach diesem TAD-Bericht kann der Gutachter keine Gefährdung am Arbeitsplatz erkennen und vermerkt genau dies im Gutachten. Die wahrheitsgemäße Schilderung des Erkrankten zählt nicht, allerdings veranlasst sie den Gutachter den Verdacht einer „Aggravation“ (Übertreibung) (2) auszusprechen. Das aber ist eine äußerst negative Aussage, die bei der späteren Klageerhebung von den Richtern des Sozialgerichtes entsprechend bewertet wird.

Das Gutachten gipfelt in der Aussage, dass bei dem Erkrankten wahrscheinlich keine Berufskrankheit vorliegt, da bei Einhaltung der Grenzwerte keinerlei nachteilige Folgen auf die Gesundheit zu befürchten seien.
Der Erkrankte erkennt im Gutachten empört eine Reihe falscher Angaben und Auslassungen von Fakten zu seinen Lasten und wehrt sich gegen das „ungerechte“ Gutachten, in dem er diesem schriftlich widerspricht. Aber auch der Widerspruchsbescheid der Berufsgenossenschaft schmettert seine Ansprüche ab. Der Erkrankte begreift nunmehr, dass die Berufsgenossenschaft nicht an einer Anerkennung seiner beruflich erworbenen Erkrankung interessiert ist, weil sie dann zahlen müsste.

Nunmehr sucht der Erkrankte sein Recht vor Gericht. Möglicherweise hat man ihm versichert, dass er vor einem Sozialgericht keinen Anwalt brauche. Er bringt also seine Klage alleine vor, denn er glaubt noch, dass vor einem deutschen Gericht Recht gesprochen wird.
Aber auch dieser Glaube wird durch die raue Wirklichkeit erschüttert.

Es beginnt im Allgemeinen eine lange Jahre andauernde Auseinandersetzung mit der Berufsgenossenschaft und den Sozialgerichten, nunmehr mit Hilfe eines Anwalts, auf den der Erkrankte nicht mehr glaubt verzichten zu können.
(Ohne das Engagement tüchtiger Anwälte schmälern zu wollen, es ist Fakt, dass auch Anwälte einem beruflich Erkrankten sehr, sehr häufig nicht zu seinem Recht verhelfen können. Denn nur etwa fünf (!) Prozent aller gemeldeten Berufskranken bekommen nach langem Kampf eine meist schmale Rente.)

Die meisten der am Arbeitsplatz Erkrankten werden durch die unschönen Auseinandersetzungen zermürbt. Von den Vorgesetzten werden sie als „Nestbeschmutzer“ beschimpft – ebenfalls erkrankte Kollegen, die versprochen hatten als Zeugen auszusagen, machen einen Rückzieher. Man erklärt ihm heimlich, dass der Betriebsleiter mit Verlust ihres Arbeitsplatzes gedroht hat.

Der Betroffene fühlt sich nicht nur vom Betrieb verraten und verkauft, sondern durch die falschen Angaben der Berufsgenossenschaft und der Gutachter diskriminiert. Auch das Sozialgericht glaubt seinen wahrheitsgemäßen Angaben nicht, der Vorwurf der Aggravation im Gutachten wiegt schwer. Der Erkrankte kann sich des Eindrucks nicht erwehren, man halte ihn für einen Simulanten und Betrüger, der zu Unrecht eine Rente verlange.

Wenn er Glück hat, lernt er eine Selbsthilfegruppe kennen. Hier hört er, dass er kein Einzelfall ist, dass es Tausenden und Abertausenden von Giftopfern im Chemiestaat Deutschland genau so geht. Hier lernt er die Namen berüchtigter Gutachter kennen, deren Gefälligkeitsgutachten regelmäßig zugunsten der Berufsgenossenschaft ausfallen. Hier erfährt er, dass viele Erkrankte durch Prozessverschleppung bereits 10 Jahre und länger kämpfen. Man macht im klar, dass die Sozialgerichte keinen Präzedenzfall zulassen, denn das würde eine Lawine von Schadenersatzansprüchen auslösen. Jetzt begreift er, dass die Anerkennung von Berufskrankheiten politisch nicht gewollt ist. Ihm dämmert, dass es eine unheilige Allianz zwischen den Interessen einer allmächtigen Industrie, den Berufsgenossenschaften und ihren willfährigen Gutachtern sowie den Richtern der Sozialgerichtsbarkeit gibt.

Dies alles führt zu maßloser Enttäuschung und Wut über ein perfides System, das keine oder nur mangelhafte Vorsorge für die Gesundheit der Menschen am Arbeitsplatz trifft, in dem Moment aber, wo Menschen infolge der geleisteten Arbeit erkranken, völlig versagt. Letztendlich ist er wie die meisten der am Arbeitsplatz Erkrankten ohne jede Hoffnung und zu geschwächt, um weiter zu kämpfen.

Laut Aussage des erfahrenen Arztes, Prof. Dr. Frentzel-Beyme, versinken solche Menschen oft in Bitternis, ihre Lebenskraft nimmt ab bis zum vorzeitigen Ende.

Dies ist die Erkenntnis eines Arztes, der international anerkannter Fachmann für Epidemiologie ist und unzählige solcher von den BGen abgelehnten Fälle nachverfolgt und dokumentiert hat. Seine Erfahrungen mit den fragwürdigen Praktiken der Gutachter, die der Berufsgenossenschaft nahe stehen, und deren erkrankten Opfern veröffentlichte er 2005 im Anwaltverlag in dem Buch:

„Berufskrankheiten im
Verständnis bewährter
Gutachter der
Berufsgenossenschaften“ (3)

Es hat sich also nichts geändert. Auch heute ist der größte Teil
der beruflich erkrankten Opfer (siehe oben)
„Vergiftet und allein gelassen“

Hinweis: Sie können das höchst aufschlussreiche Buch von Antje Bultmann als e-book lesen! Gehen Sie auf „Startseite“, dann auf „Links“ und klicken Sie den entsprechenden Link an.

(1) Bultmann, Antje(Hrsg.): „Vergiftet und allein gelassen – Die Opfer von Giftstoffen in den Mühlen von Wissenschaft und Justiz“; Knaur Taschenbuch Nr. 77214, 308 Seiten
(2) Als Aggravation(von lat. aggravare: schwerer machen) wird das bewusst übertriebene Betonen von vorhandenen Krankheitssymptomen bezeichnet. Ein Aggravant ist ein Patient, der seine Symptome übertrieben stark darstellt. Weiteres siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Aggravation
3) Frentzel-Beyme, Rainer (Hrsg):„Berufskrankheiten im Verständnis bewährter Gutachter der Berufsgenossenschaften: Das Gutachterwesen auf dem Prüfstand der Evidenz an Beispielen des Berufskrebs und chronischer Neurotoxizität
/.- Bonn : Dt. Anwaltverlag, 2005